Am Morgen des 10. Juli 1982 wird die 14-jährige Kalinka Bamberski von ihrem Stiefvater tot in ihrem Bett aufgefunden. Das Mädchen war zu Besuch bei ihm und ihrer Mutter in Lindau am Bodensee. Wie der Notarzt feststellt, ist der Teenager in der Nacht an seinem Erbrochenem erstickt. Die Polizei ordnet eine Obduktion an. Doch sie finden keine Ursache für das Erbrechen.
Laut ihrem Stiefvater war das Mädchen den ganzen Tag in der Bucht hinter seinem Haus baden in der prallen Sonne und habe möglicherweise einen Sonnenstich erlitten. Am Abend habe sie dann über Kopfschmerzen geklagt und sei nach dem Abendessen zeitig ins Bett gegangen. Gegen Mitternacht habe er sie noch einmal gesehen, als sie sich ein Glas Wasser holte. Am nächsten Morgen habe er sie tot in ihrem Bett aufgefunden.
Der Stiefvater erklärt der Polizei auch, am Morgen bereits die Totenstarre bemerkt zu haben. Trotzdem will er Mittel gespritzt haben, um sie wiederzubeleben. Doch die Obduzenten finden auch Einstichlöcher, die offenbar entstanden, bevor das Mädchen verstarb. Angeblich habe ihr der Stiefvater Eisen zur Bräunung ihrer Haut gespritzt. "Da haben wir schon die Stirn gerunzelt", erinnert sich der damals anwesende Pathologe in einer Doku über den Fall. "Das passt medizinisch nicht". Andere Organe würden dabei so massiv mitbeschädigt, dass dies nicht mit dem Leben eines so jungen Menschen vereinbar ist".
Trotzdem wird das Blut des toten Mädchens weder auf Eisen noch auf andere Substanzen untersucht. Und die Pathologen untersuchen auch nicht weiter den Riss in ihrem Genitalbereich und die daran vorhandene weiße Flüssigkeit. Die Frage, ob dem Tod ein Sexualkontakt vorausgegangen war, wird im Protokoll übergangen. Herzblut, Beckenorgane und Geschlechtsteile werden nicht wie üblich der Leiche beigegeben oder aufgehoben, sondern entsorgt. Kalinkas Stiefvater ist während der gesamten Obduktion anwesend. Mit dem leitenden Gerichtsmediziner ist er gut bekannt.
Kalinka Bamberski und ihre Familie stammen aus der Nähe von Toulouse in Frankreich. Während eines längeren Aufenthalts in Marokko lernte die Mutter den einflussreichen Arzt Dieter K. aus Lindau kennen. Sie verließ für ihn ihre Familie und heiratete den Deutschen. Fünf Jahre später, im Jahr 1980, kamen ihre Kinder auf ein Internat in Freiburg und waren nur an den Wochenenden und in den Ferien zu Besuch bei ihrer Mutter. Der leibliche Vater, ein Buchhalter, blieb in Frankreich wohnen.
Als dieser den Autopsiebericht erhält, beschleicht ihn ein Verdacht und er beginnt mit eigenen Recherchen. André Bamberski glaubt, dass der Stiefvater seine Tochter missbraucht und sie anschließend getötet hat, um das zu vertuschen. 1983 schaltet er den Münchener Staranwalt Rolf Bossy ein. Der setzt durch, dass die entnommenen Gewebeproben an der Universität München untersucht werden. Doch die Pathologen kommen zu keinem klaren Ergebnis. Sie verweisen auf Arzneiexperten.
1985, drei Jahre nach Kalinkas Tod, beauftragt die Staatsanwaltschaft den Bremer Pharmakologen Peter Schönhöfer. Er soll untersuchen, ob eine Eiseninjektion schuld ist an Kalinkas Tod. Tatsächlich wurde niemals Eisen in Kalinkas Blut nachgewiesen. Es fehlen handfeste Beweise gegen den angesehenen Kardiologen und Internisten. Auch die Exhuminierung von Kalinkas Leiche im Dezember desselben Jahres bringt keine Klarheit, da die Genitalien des Mädchens offenbar entfernt wurden.
André Bamberski findet heraus, dass 13 Jahre vor Kalinkas Tod bereits gegen Dieter K. ermittelt wurde, da er seiner ersten Ehefrau schädliche Mittel verbreicht hatte. Als sie 15 Jahre alt war, schwängerte er sie. Da war er 30 Jahre alt. Durch die Injektionen wurde die junge Frau taub, blind und stumm. Zehn Jahre später verstarb sie in Folge einer Hirnblutung. Auch in diesem Fall fehlten die Beweise für eine Anklage.
Doch Kalinkas Vater kämpft weiter und wendet sich 1991 an die französische Justiz. Die nimmt die Ermittlungen auf, gibt neue Gutachten in Auftrag. Schließlich eröffnen sie ein Verfahren gegen den Arzt aus Lindau. Für Vergewaltigung und Mord reichen die Beweise nicht aus. Jedoch sind die Behörden davon überzeugt, dass Dieter K. das junge Mädchen getötet hat. Im März 1995 wird der Stiefvater wegen vorsätzlicher Nötigung mit Todesfolge zu 15 Jahren Haft verurteilt. In seiner Begründung betont das Gericht ausdrücklich, dass es sich bei der Injektion um eine vorsätzliche Tat handelte. Der Tod des Mädchens sei zwar nicht beabsichtigt, aber in Kauf genommen worden. Doch Dieter K. wird von Deutschland nicht ausgeliefert und lebt dort weiter als freier Mann.
1997 wird Dieter K. in Deutschland vor Gericht gestellt, weil er eine 16-jährige Patientin betäubt und missbraucht haben soll. Reue zeigt er nicht. In einem bizarren Fernsehinterview erzählt er, dass sie zwar nicht ja gesagt habe, aber auch nicht nein. Sie habe seine Küsse erwidert und auf die Frage, ob sie jetzt weitergehen möchte, nur gelächelt. "Wer schweigt, scheint zuzustimmen, hat man im alten Rom gesagt. Ich sage nicht, sie war begeistert, dass ich das tue, aber ich hatte die Illusion, dass sie einverstanden ist".
Dieter K. wird zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und einem Berufsverbot für die Dauer von zwei Jahren wegen sexuellen Missbrauchs einer Widerstandsunfähigen verurteilt. Nach dem Urteil kommen zahlreiche weitere Fälle ans Licht. Viele Frauen hatten den Missbrauch aus Scham oder Angst vor dem gesellschaftlich angesehenen Arzt verschwiegen. Weil die Fälle jedoch teilweise verjährt sind oder es zu wenige Beweise gibt, kommt es zu keinem weiteren Prozess.
2001 gründet ein Bekannter von André Bamberski die Initiative "Justice pour Kalinka" ("Gerechtigkeit für Kalinka") . Dutzende Unterstützer organisieren Demonstrationen und schreiben Briefe an Politiker, unter anderem an die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy. Vor dem deutschen Konsulat in Toulouse fordern sie einen internationalen Haftbefehl gegen Dieter K. Mit Erfolg. 2004 wird dieser ausgestellt. Doch die Generalstaatsanwaltschaft München verweigert erneut die Auslieferung. Denn ohne neue Fakten und Beweise darf ein Verfahren in Deutschland nicht erneut eröffnet werden und damit auch keine Auslieferung stattfinden.
Als alle juristischen Mittel ausgeschöpft sind, greift Kalinkas Vater zu drastischen Mitteln: Er lässt den mittlerweile 74-jährigen Dieter K. am späten Abend des 17. Oktober 2009, also 27 Jahre nach der Kalinkas Tod, von drei Männern in dessen Haus überfallen, niederschlagen und nach Frankreich entführen. Im elsässischen Mulhouse legen sie ihn gefesselt vor einem Gerichtsgebäude ab und informieren die Polizei. Die Beamten nehmen ihn fest. André Bamberski bekennt sich zu der Tat.
2011 muss sich Dieter K. vor einem Pariser Schwurgericht verantworten. Die französischen Ermittler sind davon überzeugt, dass er seiner Stieftochter kein Eisenpräparat, sondern ein Betäubungsmittel gespritzt hat, um sie dann zu missbrauchen. Doch offenbar hatte die 14-Jährige das Mittel nicht vertragen und sich unbemerkt übergeben. Weil jedoch durch die Betäubung ihre Schutzreflexe versagten, erstickte sie an ihrem Erbrochenem.
Kalinkas Mutter, die jetzt erstmals auch von der Schuld ihres damaligen Mannes überzeugt ist, tritt als Nebenklägerin auf. Danielle Gonnin hatte sich bereits 1989 von Dieter K., getrennt, bislang aber immer zu seinen Gunsten ausgesagt und ihn als vorbildlichen Stiefvater dargestellt.
Am 22. Oktober 2011 wird Dieter K. wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Gefängnisstrafe von 15 Jahren verurteilt. Bis zuletzt hatte er seine Unschuld beteuert: "Ich schwöre dem Gericht und Frau Gonnin, dass ich Kalinka niemals etwas angetan habe", sagt er am Ende des dreiwöchigen Prozesses mit bebender Stimme.
André Bamberski äußert sich nach der Verurteilung gegenüber Pressevertretern: "Selbstverständlich gilt mein erster Gedanke Kalinka. Was ich versprochen habe, habe ich erreicht. Das heißt, ein vollständiger Prozess. Ein gerechter Prozess. Ich habe dieses Ziel erreicht. Die Justiz hat entschieden. Zu ihrem Gedenken. Und ich werde jetzt trauern können". Drei Jahre nach dem Urteil wird er wegen der Entführung des Arztes zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr verurteilt.
Dieter K. wird im Februar 2020 aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft entlassen. Er stirbt im September 2020 in einem Altenheim in Niedersachsen.
Sehen Sie im Video: Musikerin und Schauspielerin Edith Stehfest nahm jahrelang Drogen. Unter K.-o.-Tropfen wurde sie vergewaltigt und ahnte nichts davon, bis das LKA bei ihr Zuhause stand und sie gebeten wurde Opfer und Täter in einem Vergewaltigungsvideo zu identifizieren. Heute will sie Betroffenen sexualisierter Gewalt Mut machen.
Quellen: ZDF-Doku "Aufgeklärt", ARD-Doku "Das tote Mädchen vom Bodensee", mit Material von DPA
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